Nach Schweden auswandern, das ist ein Lebenstraum vieler Deutscher. Nach einer aktuellen Studie der Statistikmyndigheten haben 2022 insgesamt 4533 deutsche Staatsbürger diesen Traum wahr gemacht. Menschen, die sich für diesen Schritt entscheiden, werden bisweilen von idealisierten Erwartungen und verklärten Vorstellungen geleitet. Schweden: Das Land mit den malerischen falunroten Holzhäusern, idyllischen Naturlandschaften und Elchen in der Nachbarschaft.
Mit dieser Einstellung wandern viele aus und werden bei der Ankunft dann doch mit der Realität konfrontiert. Während der Coronakrise zogen zahlreiche Menschen nach Schweden, um den Corona-Maßnahmen in den restlichen Ländern zu entfliehen und sich wieder frei fühlen zu können. Schweden setzte in dieser Zeit lieber auf Empfehlungen als auf Vorschriften. Bei vielen war die Enttäuschung groß, als die Vorstellung vom Freiheitsgefühl auf Probleme stieß und diese Herangehensweise vielleicht nicht ganz dem perfekten Modell für die Corona-Eindämmung entsprach. Das sogenannte Bullerbü-Syndrom, 2007 vom damaligen Leiter des Goethe-Instituts in Stockholm Berthold Franke so benannt, beschreibt genau dieses Phänomen und steht für eine idealisierte Vorstellung Schwedens. Der Begriff geht auf die Kinderbuchreihe „Wir Kinder aus Bullerbü“ von Astrid Lindgren zurück. „Bullerbü“, im schwedischen Original „Bullerbyn“, bedeutet frei übersetzt so viel wie „Lärmdorf“. Die literarische Welt Lindgrens, mit der unberührten Natur und der netten Nachbarschaft, definiert die verklärte Vorstellung, die viele hierzulande von Schweden haben.
Auf der Verklärungswelle reiten auch andere gerne mit. So zum Beispiel die Geschichte von Inga Lindström, dem Pseudonym einer – natürlich – deutschen Autorin. Die idyllischen Inga-Lindström-Filme werden schon seit dem Jahre 2004 ausgestrahlt und prägen in Deutschland das perfekte Schweden-Bild mit. Probleme wie die steigende Bandenkriminalität und die damit verbundene Gewalt an den Randbezirken von Stockholm, Malmö und Göteborg werden bei den Figuren nicht thematisiert. Mit einem netten „Hej!“ und einer romantischen Liebesbeziehung gibt es keinen Platz für düstere Themen.
Doch nicht erst seit Lindgren und Lindström fasziniert die Deutschen der nordische Nachbar: Schon früh in der deutschen Literatur bezieht sich E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung „Die Bergwerke zu Falun“ aus dem Jahre 1819 auf die unterirdische Umgebung in dem kleinen schwedischen Ort. Im Verlauf der Handlung wird der Protagonist dann mehr und mehr von einer magischen Instanz in die Bergwerke gelockt. Auch Johann Peter Hebels Erzählung „Unverhofftes Wiedersehen“ spielt in dem und um das Bergwerk. Kurt Tucholsky lässt 1931 seine in eine Erzählung „Schloss Gripsholm – Eine Sommergeschichte“ einen Ort in Schweden spielen, der durch seine unberührte und idyllische Natur besticht. Als die politische Lage in Deutschland sich zunehmend zugespitzt hatte und Tucholsky sich als Künstler eingeschränkt sah, war er 1929 selbst nach Schweden ausgewandert.
Berthold Frankes Begriff Bullerbü-Syndrom bezeichnet also treffend die (verklärte) Schwedenliebe der Deutschen. Er hat versucht, das Phänomen Inga Lindström zu analysieren und mit einem nüchternen Blick auf die Schweden-Faszination einzugehen. Im Februar 2008 wurde der Begriff sogar vom schwedischen Sprachrat zum „Neuen Wort des Monats“ gekürt. Laut Franke sei Deutschland neben Schweden das Land, in dem die Bücher von Astrid Lindgren am populärsten sind. „Die Kinder von Bullerbü“ würden das Schwedenbild der Deutschen gut auf den Punkt bringen: Wunderschöne kleine Häuser in einer idyllischen Naturlandschaft. Das Bullerbü-Syndrom habe im Grunde eher etwas mit Deutschland als mit Schweden zu tun. Schweden würde als Sehnsucht nach einer unschuldigen Welt in der Urbanisierung fungieren.
Das Bullerbü-Syndrom zeigt, wie verklärte Vorstellungen mit der Realität aufeinanderprallen können. Dennoch bietet die Realität Schwedens viele Gründe zum Auswandern wie ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein, hohe Lebensqualität und die Nähe zur Natur. Hierbei darf nur nicht vergessen werden, dass jedes Land seine Herausforderungen hat und somit eine realistische Erwartungshaltung bei der Entscheidung für die Auswanderung nicht fehlen darf. Trotz allem ist die Begrifflichkeit des Bullerbü-Syndroms keineswegs eine Gefahr. Ideale und Träume zu bewahren kann auch etwas Gutes haben. Schwierig wird es erst, wenn man mit allem unzufrieden ist und meint, dass man nun nach Schweden auswandert, weil dort sowieso alles besser sei und das Land einem „Groß-Bullerbü“, wie es Berthold Franke beschreibt, entspricht.
von Sarah Fegraeus